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SUR TUOT – Am Tor zwischen Genuss und Zumutung
SUR TUOT – rätoromanisch für «über allem». Der Name ist Programm, denn die Trail-Verbindung zwischen Ischgl, Samnaun und Scuol fällt nie unter 2200 m.ü.M. Sie scheint über den Tälern zu schweben, losgelöst, ja fast entrückt. Die fahrbare Vision dazu wurde 2018 im Masterplan der Bikeregion Engiadina Bassa – Val Müstair – Samnaun skizziert und wird seither von verschiedenen Akteuren umgesetzt. Dieses Jahr packte die lokale Trailbau-Equipe «Trailuniun» mit Unterstützung von Vast Trails das herausfordernde 8km lange Kernstück an der «Fuorcla Davo Dieu» an.
Autoren: Xaver Frieser & Severin Schindler
Bilder: Xaver Frieser & Severin Schindler
Eine Linie immer über 2200 m.ü.M.
Ein neunköpfiges Team legte eine Woche lang den ganzen Fokus auf den Ausbau des Weges zwischen Fuorcla Champatsch über die Fuorcla Davo Dieu bis zur Heidelberger Hütte. Die Woche konnte bei besten Witterungsbedingungen erfolgreich durchgeführt werden und es wurde mehr erreicht als zu Beginn zugemutet. Abgeschlossen sind die Arbeiten jedoch noch nicht. Ein zweiter Einsatz, insbesondere für den Abschnitt Heidelberger Hütte – Las Gondas, ist für 2026 gesetzt. Doch schon jetzt lässt sich die neue Verbindung erahnen: eine Linie hoch oben im Gebirge, roh, fordernd und von einer Schönheit, die alles andere klein erscheinen lässt. Wer sich bereits heute darauf einlässt, erlebt Trail-Anteile von seltener Qualität, eine Abfolge von imposanten Landschaftskammern flankiert von spitzen Bergen, die sich wie ein Bilderbuch öffnen, und ein Fahrfluss, der süchtig macht. Gleichzeitig zwingt die Route dazu, das Bike immer wieder zu schultern: Durch die Moorflächen des Val Fenga oder über den Blockwurf nördlich und südlich der Fuorcla Davo Dieu. Diese Passagen sind kein Beiwerk, sondern Teil der Erfahrung. Sie markieren die Grenze zwischen Genuss und Zumutung – und genau dort entsteht jene Tiefe, die Abenteuer braucht.
Herausfordernd und logistisch absurd
Die Instandsetzung dieser Trail-Verbindung ist ein Kapitel für sich: weitläufig, logistisch absurd, stellenweise fast surreal. Es braucht Körner, Geduld, Committment und Leidenschaft. Aber genau das macht den Reiz aus. Das Team hat in dieser Woche gelebt wie auf Expedition: 30’000 Schritte pro Tag, bis zu zwei Stunden Anmarschzeit, bis der Pickel in den Boden rauscht, abends um 21:15 Uhr ins Nest gefallen, morgens um sechs wieder am Frühstückstisch. Dazwischen tonnenweise Erde und Steine bewegt und den eigenen Körper an die Grenze getragen. Müde, ja – aber mit breitem Grinsen und grosser Erfüllung. Um Wege zu sparen, wurde in der ersten Nacht unterhalb der Fuorcla Davo Dieu ein Biwak aufgeschlagen. Für die restlichen drei Nächte durfte auf die grosszügige Gastfreundschaft von Loisl, dem Hüttenwirt der Heidelberger Hütte, gezählt werden.
Hinter Gott
Das Dach des Kernstücks heisst DAVO DIEU – auf rätoromanisch «hinter Gott», ein hochalpiner Pass auf 2807 m.ü.M. DAVO DIEU, ein Name aus alten Zeiten, als man sich von Scuol aus nicht vorstellen konnte, dass hinter dieser Scharte noch mehr Welt wartet. Heute öffnet sich dort auch für das Mountainbiken ein neuer Horizont: Möglichkeiten zwischen Ischgl, Samnaun und Scuol, wie man sie bisher nicht zusammendenken konnte. Für ambitionierte Alpen-Crosser:innen ergibt sich die Option, anstatt über Fimberpass – Val Sinestra – Ramosch – Val d’Uina die abenteuerlichere Variante nach Scuol zu wählen. Am Ende der SUR TUOT-Achse öffnet sich das gut ausgebaute Trailnetz von Scuol. Als Alternative zum Val d’Unia kann anschliessend via Val da S-charl das Val Müstair erreicht werden, wo bekannterweise weitere exzellente Trail-Perlen warten. In Kombination mit dem Fimberpass bietet sich die Verbindung auch in der Gegenrichtung von Scuol aus als Rundtour an.
28 Kilometer hochalpin
SUR TUOT und insbesondere DAVO DIEU ist keine Route für alle. Es ist ein Versprechen an jene, die bereit sind, mehr zu geben und im Gegenzug dafür noch mehr zu erhalten. Eine 28 Kilometer lange Linie durch hochalpines Gefilde, mäandrierend zwischen 2200 und 2800m, über vier Pässe führend, roh und mächtig, pur und legendär im Werden. Von Samnaun oder Ischgl aus beim Ausser Viderjoch startend, schlagen sich bis zur Einmündung in das Scuoler Trailnetz 1600 Höhenmeter und 2000 Tiefenmeter zu Buche. Ab da stehen bis zum Talboden nochmals mindestens 1000 Tiefenmeter Trail-Genuss bereit. Für Nutzende von E-MTBs ist diese Verbindung jedoch fragwürdig, denn das notwendige Tragen könnte zur Tortur werden. Das Spektrum zwischen Genuss und Zumutung sowie desser Wahrnehmung ist ja bekannterweise sehr gross. Die individuelle Einordnung dieser Trail-Verbindung ist daher jedem Mensch selbst überlassen. Viel Spass auf SUR TUOT!
Trailuniun beim Baustart an der Südseite, v.l.n.r: Jacky, Ewald, Florian, Severin, Martina, Mario, Simon und Raffi (Foto: Xaver Frieser)